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4.3 Terre Thaemlitz
"Keine Norm für Niemand": Über künstlerische Strategien der Sichtbarmachung der gesellschaftlich verankerten Zwei-Geschlechter-Norm in der Ausstellung 1-0-1 [one’o one] intersex - Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung (Berlin 2005)
 
- Sandra Stoll & Berit Kitzing


This is the third section of the fourth chapter of a book by Sandra Stoll and Berit Kitzing, Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät I, Institut für Europäische Ethnologie, 2007. A free PDF of the complete book is available at: http://edoc.hu-berlin.de/docviews/abstract.php?id=27765

 

Abstract (ger):

In ihrem Beitrag befassen sich Sandra Stoll und Berit Kitzing mit dem gesellschaftlichen Umgang mit Intersexualität aus einer kulturanthropologischen, Akteur_Innen zentrierten Perspektive. Sie haben sich einem gesellschaftlichen Bereich genähert, in dem medizinisches Wissen und juristische Normen in Lebensformen, Identitäten und Körper lenkend eingreifen, sich gegenseitig legitimieren und das 'Andere' pathologisieren bzw. ausschlie&szelig;en. Hierzu haben sie Interviews mit internationalen Künstler_Innen des Ausstellungs- und Archivprojekts 1-0-1 [one'o one] intersex - Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung (NGBK Berlin-Kreuzberg 17.06. - 31.07.2005) geführt. Nach einer theoretischen Einführung in das Zwei-Geschlechter-System analysieren sie genauer die Kunstprojekte von Ins A Kromminga, Del LaGrace Volcano und Terre Thaemlitz. Im Fokus stehen deren Strategien der Sichtbarmachung von selbstverständlich erscheinenden Normen im Hinblick auf das Postulat der Ausstellung, "dass Eingriffe in die Menschenrechte von Intersexuellen kein individuelles, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem sind, das alle angeht."


 

4.3 Terre Thaemlitz

4.3. Terre Thaemlitz
48 Lovebomb / Ai No Bakudan: Japan: 2003, 74 Minuten, Regie: Terre Thaemlitz.
 
49 Die Transmediale gilt als das grö&szelig;te Festival für Kunst und kreative Anwendungen der digitalen Medien in Deutschland. Das Medienkunstfestival fand 2004 vom 31.01. bis 04.02. im Haus der Kulturen der Welt in Berlin zum 17. Mal statt. Weitere Informationen unter www.transmediale.de.
 
50 Interview mit Terre Thaemlitz am 25.05.2005.
 
51 Lightfoot-Klein, Hanni: Der Beschneidungsskandal. Berlin 2003.

Auch in Terre Thaemlitz' Audio- und Video-Installation Lovebomb / Ai No Bakudan48 (2003) wird Intersexualität in einen grö&szelig;eren Zusammenhang gestellt und als ein westliches Konzept begriffen. Die 1-0-1 intersex-AG hat diese Arbeit auf der Transmediale 0449 gesehen, "[...] and I [Terre Thaemlitz] think they [1-0-1 intersex AG] thought it would be a good way to open up connections to the larger issues of intersexuality and transgenderism - coming out of a social context, rather than letting it be about a ‘voice', I don't know, a ‘voice of victims' or whatever [...]."50 Während individuelle Erfahrungsberichte am Anfang des Ausstellungsrundgangs im Zentrum stehen, stellt Terre Thaemlitz' Installation am Ende nicht nur eine Verknüpfung zwischen der individuellen und der gesellschaftlichen Ebene im Umgang mit Intersexualität her. Terre Thaemlitz zeigt in besonderem Ma&szelig;e eine Verbindung zu globalen Konfliktthemen auf. Zentrales Anliegen ist es, die Verbindung zwischen den Entscheidungen der Eltern für die Operationen ihrer Kinder und dem sich darin verborgenen universellen Liebeskonzept aufzuzeigen. Damit verdeutlicht er, dass viele Eltern aus Liebe bzw. aus Fürsorge zu ihren Kindern und aus Angst vor zukünftiger Stigmatisierung und Diskriminierung diesen unwiderrufbaren Weg einschlagen. Hier treten die Rechte der Kinder mit denen der Eltern in Konflikt, "[...] denn Kinder sind nicht das Eigentum ihrer Eltern. Sie haben alle Menschenrechte von dem Tag ihrer Geburt an [...]"51. Auch die Rechtfertigungen der Ärzt_Innen für die stark in die Integrität der Kinder eingreifenden, medizinischen Behandlungen erfolgen oft nach dem Prinzip der Fürsorge. Terre Thaemlitz stellt diesen Zusammenhang in einen globalen Kontext und macht auf gewaltvolle Praxen im Namen der Liebe und Fürsorge aufmerksam.

52 Interview mit Terre Thaemlitz am 25.06.2005.
 
53 Ebd.

Bereits der Titel Lovebomb / Ai No Bakudan weist auf das auf den ersten Blick widersprüchliche Paar Fürsorge und Krieg hin, wie Terre Thaemlitz im Interview unterstreicht: "[...] nationalism, love of country, or love of religion - fundamentalism - these are all basically kinds of concepts of love, which are in a way presented as a kind of defence mechanism [...] But it also becomes the way that people justify aggression, exclusion and other types of violence."52 Demzufolge fungiert Liebe als eine Legitimation für Gewalt: "[L]ove functions as a facilitator of violence, and not as anything that is inherently in opposition to violence [...]".53 So wie Nationalismus im metaphorischen Sinne als Liebe zum Land und zur Nation kann auch Humanität als Liebe zum Menschen verstanden werden. Mit den Menschenrechten, die u.a. auf humanistischen Grundlagen basieren, sollen bestimmte Rechte und Normen universell geltend gemacht werden. Auch 'humanitäre Kriegseinsätze' und somit der Einsatz von Gewalt werden im Namen der Menschlichkeit durchgeführt. Das Problem ist laut Terre Thaemlitz folgendes:

    "[...] humanism presumes a solution. Human rights presumes a solution [...] but there is non. [...] Universality is in the end a form of homogenisation. And in the end it eradicates difference, and the potential to understand difference. So, a humanist world outlook is actually a very specific western world outlook about a ‘human condition' as seen through western eyes."54

54 Ebd.
 
55 www.comatonse.com [29.11.2006] Internetseite des Music Labels Comatonse Recordings, das von Terre Thaemlitz gegründet wurde und weiterführende Informationen bereitstellt: Interviews, Musik, Awards.
 
56 Interview mit Terre Thaemlitz am 25.06.2005.

Um die Mechanismen der Universalität sichtbar zu machen, wendet Terre Thaemlitz die Strategie der Störung von kulturell verhafteten Wahrnehmungs- und Handlungsmustern an. Als bewusst eingesetzte Irritationen und Störungen sind beispielsweise die sprunghaften Bildsequenzen wie auch die wechselnden Lautstärken in seiner Audio- und Videoinstallation zu nennen. Das Publikum ist immer wieder gezwungen, die Lautstärke der Musik zu regulieren. Damit möchte er die Aufmerksamkeit der Besucher_Innen auf deren eigene physische Anwesenheit und auf deren Position innerhalb der Gesellschaft lenken und sie zum Nachdenken anregen. Hieran erweist sich, dass für Terre Thaemlitz, der in Japan sein eigenes Musiklabel Comatonse Recordings55 gegründet hat, Kunst und Musik eher einen funktionalen Zweck erfüllen, wie er im Interview selbst konstatiert: "I'm not interested in art, I'm not interested in music. I'm interested in talking about issues in developing media, to talk about them."56

57 Das Transkript ist online auf: comatonse.com/tsr/ [29.11.2006].

Zudem ist Terre Thaemlitz wie auch Del LaGrace Volcano stra&szelig;enaktivistisch tätig. Für das Projekt Trans-Sister Radio des Hessischen Rundfunks57 befragte Terre Thaemlitz Zollbeamt_Innen und weitere Flughafenangestellte zu ihrer Berufspraxis, z.B. wie sie mit 'Menschen uneindeutigen Geschlechts' bei der Passkontrolle umgehen:

    "Part of this project was dealing with the idea of transgendered migration, travel, and the idea of invisibility during transgendered travel [...]. So, it's about this kind of invisibility around transgendered travel. It's not that transgendered people don't travel. [...] But when people do travel it is typically by either dressing to pass their documented gender, or if they are really totally transitioned and can no longer pass as their old gender you sometimes have cases of fake identification."58

58 Interview mit Terre Thaemlitz am 25.06.2005.
 
59 Hees, Jutta: Wider das Eindeutige. In: Frankfurter Rundschau 17.11. 2004. Auf: comatonse.com [29.11.2006].

Neben ratlosen und skeptischen Reaktionen seitens der Flughafenangestellten lautete die konkreteste Aussage: "Man müsse fragen, ob er als Frau oder als Mann an Bord gehen wolle."59 Mehrfach wurde jedoch behauptet, sie wären noch nie einer transgender Person begegnet. Terre Thaemlitz macht durch diese Befragung den täglichen und unhinterfragten Umgang mit 'vergeschlechtlichten Indizien' und deren Kontrolle sichtbar.

60 Vgl. Thaemlitz, Terre: Trans-Sister Radio. Ein Hörspiel. Auf: comatonse.com/tsr/ [15.11.2006].

Der Flughafen als ein internationaler Ort begriffen, gewinnt dadurch zusätzlich an Bedeutung: Ein Ort, an dem Sicherheitsstandards und Kontrollen von Identitäten sich an bestimmten, scheinbar objektiv festgelegten 'globalen Normen' orientieren, umfasst u.a. auch Geschlechternormen als relevante Erkennungs- und Unterscheidungskriterien - insbesondere vor dem Hintergrund der Warnungen der US-Regierung vor "Terroristen in Frauenkleidern"60. Sowohl Terre Thaemlitz als auch Del LaGrace Volcano thematisieren die formal diskriminierenden Flughafenstandards anhand ihrer eigenen Erfahrungen, da sie als internationale Künstler_Innen regelmä&szelig;ig reisen, weltweit Termine wahrnehmen und immer wieder mit den erforderlichen Geschlechtergrenzen konfrontiert werden. Um international reisen zu können, ist eine Eindeutigkeit bzw. Festlegung des Geschlechtseintrages erforderlich.

61 Vgl. Schweitzer, Eva: Operation überflüssig. In: Berliner Zeitung 9.11.2006, S. 36.
 
62 Interview mit Terre Thaemlitz am 25.06.2005.

Eine Änderung des Geschlechtseintrages - als 'Problembewältigungsstrategie' - ist nur in wenigen Ländern überhaupt möglich und an spezifische Vorgaben gebunden, die nicht jede_R erfüllen kann oder will.61 Au&szelig;erdem gibt es viele Gründe, sich auch diesem 'Identitätenhandel' zu verweigern, da er wieder nur die Inklusion einer spezifischen, randständigen Gruppe bedeutet, ohne jedoch die Zwei-Geschlechternorm per se zu hinterfragen - ganz abgesehen von dem (behördlichen) Aufwand, den es dafür zu betreiben gilt. Selbst mit der Möglichkeit der Eintragung als Transgender im Pass hie&szelig;e das jedoch nicht, dass es international anerkannt würde oder problemlos geltend gemacht werden könnte: "That's a problem because you have to negotiate it with all kinds of nations. Passports are not only about the country that issues them, but it's a negotiated means of being recognized by the country you travel to."62 Del LaGrace Volcano schlägt deshalb als praktische Alltagslösung vor, beim Ausfüllen von Formularen in der Kategorie Geschlecht nicht 'm' für männlich oder 'f' für weiblich, sondern einfach nur Geschlecht anzukreuzen.

Die Verbindung von politischem und künstlerischem Handeln zeichnet Del LaGrace Volcanos und Terre Thaemlitz' Arbeiten aus und zeigt Möglichkeiten subversiver Problembewältigungsstrategien auf.